Der EuGH hält in seiner aktuellen Entscheidung Vădan (Urt. v. 21.11.2018 – C-664/16) erstmals fest, dass die Vorlage von Rechnungen für den Vorsteuerabzug nicht zwingend erforderlich ist. Die strikte Anwendung des Erfordernisses Rechnungen vorzulegen, verstoße gegen den Neutralitätsgrundsatz und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Demnach können Steuerpflichtige den Vorsteuerabzug auch dann geltend machen, wenn sie durch objektive Nachweise belegen können, dass die (materiellen) Voraussetzungen des Vorsteuerabzugsrechts erfüllt sind. Für Unternehmer, denen die Finanzbehörden mangels Rechnungen den Vorsteuerabzug verwehrt haben, eröffnen sich nun neue Möglichkeiten.
1 Hintergrund
Der EuGH hatte sich in der Vergangenheit bereits mehrfach mit der Bedeutung der Rechnung für den Vorsteuerabzug beschäftigt. Dabei hat er die Anforderungen und Konsequenzen des Rechnungserfordernisses zu Gunsten des Steuerpflichtigen gelockert, insbesondere in den Entscheidungen Senatex (EuGH, Urt. v. 15.09.2016 – C 518/14) und Barlis (EuGH, Urt. v. 15.09.2016 – C 516/14). Hintergrund war vor allem das Neutralitätsprinzip der Umsatzsteuer. Die nun veröffentlichte Entscheidung Vădan (EuGH, Urt. v. 21.11.2018 – C-664/16) stellt einen weiteren Meilenstein in dieser Entwicklung dar.
2 Sachverhalt
Der Kläger war ein rumänischer Staatsangehöriger, der in den Jahren 2006 bis 2009 in Rumänien Wohnimmobilien und Baugrundstücke verkaufte (Gesamtwert: ca. EUR 4 Mio.). Unklar war, ob der Kläger hinsichtlich der Eingangsleistungen zum Vorsteuerabzug berechtigt war. Die rumänischen Steuerbehörden gingen von einer umsatzsteuerlichen Registrierungspflicht des Klägers aus. Der Kläger vertrat dagegen die Auffassung, dass sich natürliche Personen in Rumänien damals nicht umsatzsteuerlich registrieren lassen konnten. Zum Zeitpunkt des Leistungsbezugs war es nach rumänischem Recht nicht vorgeschrieben, Rechnungen an natürliche Personen auszustellen. Hinsichtlich der Eingangsleistungen für die Errichtung der verkauften Gebäude erhielt der Kläger lediglich Kassenzettel, die aufgrund der schlechten Qualität der verwendeten Druckerschwärze inzwischen unleserlich geworden waren. Der Kläger hatte sonst keine Bücher geführt. Das nationale Gericht wollte vom EuGH wissen, ob der Kläger auch ohne die Vorlage von Rechnungen zum Vorsteuerabzug berechtigt war. Falls diese Frage bejaht würde, wollte das Gericht zudem wissen, ob der Umfang des Vorsteuerabzugsrechts durch Schätzung in einem gerichtlich angeordneten Sachverständigengutachten ermittelt werden darf.
3 Entscheidung
Der EuGH prüfte beide Fragen zusammen. Er nahm zunächst Bezug auf seine Ausführungen in der Rechtssache Senatex und unterschied zwischen materiellen und formellen Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug. Materiell müsse der Steuerpflichtige eine Leistung empfangen, die er für Zwecke seiner besteuerten Ausgangsumsätze verwendet. Formell müsse er eine Rechnung nach Art. 226 MwStSystRL besitzen. Der Vorsteuerabzug sei auch dann zu gewähren, wenn lediglich die materiellen Voraussetzungen erfüllt sind, bestimmte formelle Voraussetzungen aber fehlen. Unter Hinweis auf seine Entscheidung Barlis betonte der EuGH nochmals, dass der Vorsteuerabzug nicht verweigert werden dürfe, wenn eine Rechnung nicht alle Rechnungspflichtangaben enthält, aber die Finanzbehörde über sämtliche Daten verfügt, um zu prüfen, ob die materiellen Voraussetzungen vorliegen.
Infolgedessen geht der EuGH im vorliegenden Fall davon aus, dass die „strikte Anwendung des formellen Erfordernisses, Rechnungen vorzulegen, gegen die Grundsätze der Neutralität und Verhältnismäßigkeit“ verstößt. Andernfalls würde dem Steuerpflichtigen auf unverhältnismäßige Weise die steuerliche Neutralität seiner Umsätze verwehrt. Gleichwohl müsse der Steuerpflichtige durch „objektive Nachweise“ belegen, dass die (materiellen) Voraussetzungen für den Vorsteuer¬abzug vorliegen. Diese Voraussetzung hatte der Kläger hier nicht erfüllt. Die vorgelegten Dokumente waren unleserlich und genügten nicht, um zu bestimmen, ob und inwieweit dem Kläger ein Recht auf Vorsteuerabzug zusteht. Dieser Mangel sei mit einem gerichtlich angeordneten Sachverständigengutachten nicht behebbar.
4 Praxisfolgen
Neu an der Entscheidung ist vor allem die Aussage des EuGH, dass die „strikte Anwendung des formellen Erfordernisses, Rechnungen vorzulegen, gegen die Grundsätze der Neutralität und der Verhältnismäßigkeit [verstößt]“. Damit stellt der EuGH erstmalig klar, dass der Steuerpflichtige für den Vorsteuerabzug nicht zwingend eine Rechnung besitzen muss. Für den Steuerpflichtigen ist dies vorteilhaft. Bei Auseinandersetzungen mit der Finanzverwaltung wegen fehlender Rechnungen liefert ihm das Urteil einen völlig neuen Argumentationsansatz.
Steuerpflichtige, denen die Finanzverwaltung den Vorsteuerabzug mangels Rechnungen versagt (hat), sollten daher prüfen, ob sie nicht auch ohne Rechnungen die (materiellen) Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug durch objektive Nachweise belegen können. Der EuGH hat in dieser Frage nach der vorliegenden Entscheidung ein weites Verständnis. Seiner Auffassung nach genügen u. a. auch Unterlagen im Besitz des Liefernden. Der Steuerpflichtige braucht also keine Unterlagen vorzuweisen, die spezifisch an ihn adressiert sind. Eine Schätzung in einem gerichtlich angeordneten Sachverständigengutachten kann die objektiven Nachweise nur ergänzen, nicht aber ersetzen.