Bleibt die Leistung aus, kann nach aktueller Sichtweise des EuGH der Vorsteuerabzug hier nur dann versagt werden, wenn der Anzahlende im Zeitpunkt der Anzahlung wusste oder vernünftigerweise hätte wissen müssen, dass die Leistung unsicher ist (Urt. v. 31.05.2018, Rs. C-660/16 und C-661/16, Kollroß und Wirtl). Erlangt der Anzahlende die Kenntnis erst später, muss er den Vorsteuerabzug nur dann berichtigen, wenn er die Anzahlung vom Vertragspartner zurückerhalten hat.
1. Sachverhalte
Kollroß und Wirtl bestellten jeweils Blockheizkraftwerke bei einem Unternehmen. Hierfür tätigten sie nach Rechnungserhalt jeweils Vorauszahlungen inkl. Umsatzsteuer. An Wirtl sollte die Lieferung 14 Tage nach Eingang der Zahlung erfolgen, während für Kollroß der Lieferzeitpunkt bei Zahlung noch nicht feststand. In beiden Fällen blieb die Lieferung aus. Das zur Leistung verpflichtete Unternehmen, das die Umsatzsteuer an das Finanzamt abgeführt hatte, wurde insolvent. Kollroß und Wirtl erhielten die Anzahlung nicht zurück. Die für das Unternehmen handelnden Personen wurden wegen gewerbs- und bandenmäßigen Betrugs und wegen vorsätzlichen Bankrotts strafrechtlich verurteilt. Für das Jahr 2010 machten die Kläger jeweils den Vorsteuerabzug aus den Vorauszahlungen geltend. Die Finanzämter lehnten diesen ab.
2. Kernproblem
In der Rs. Firin (EuGH, Urt. v. 13.03.2014 – Rs. C-107/13) hatte der EuGH entschieden, dass der Vorsteuerabzug aus einer Vorauszahlung entfällt, wenn der Eintritt des Steuertatbestands zum Zeitpunkt der Zahlung „unsicher“ ist. Die ersten Vorlagefragen der beiden Verfahren befassen sich damit, ob das Kriterium der Unsicherheit nach der objektiven Sachlage oder aus der (objektivierten) Sicht des Anzahlenden heraus zu beurteilen ist. Mit der zweiten Vorlagefrage wollte der BFH wissen, ob die Berichtigung des Vorsteuerabzugs aus einer Anzahlung davon abhängig gemacht werden darf, dass der Anzahlende die Anzahlung von seinem Vertragspartner zurückerhalten hat.
3. Entscheidung des EuGH
Nach Ansicht des EuGH kommt der Vorsteuerabzug aus einer Anzahlung dann nicht in Betracht, wenn im Zeitpunkt der Anzahlung unsicher ist, ob die Leistung erbracht wird. In den beiden Vorlageverfahren Kollroß und Wirtl waren im Zeitpunkt der Anzahlung aus Sicht des EuGH die Gegenstände, die geliefert werden sollten, klar bezeichnet. Alle maßgeblichen Elemente der zukünftigen Lieferung konnten als dem Erwerber bekannt angesehen werden, sodass die Lieferung als sicher erschien. Unschädlich sei auch, dass im Zeitpunkt der Anzahlung teilweise nicht genau bekannt war, wann der Gegenstand geliefert würde. Nur wenn anhand objektiver Umstände erwiesen ist, dass der Erwerber zum Zeitpunkt der Anzahlung wusste oder vernünftigerweise hätte wissen müssen, dass diese Leistung voraussichtlich nicht erbracht wird, darf der Vorsteuerabzug versagt werden.
Das Ausbleiben der Leistung führt im konkreten Fall auch nicht zu einer Pflicht zur späteren Berichtigung des Vorsteuerabzugs. Das deutsche Recht erfordert eine Berichtigung des Vorsteuerabzugs in derartigen Fällen nur, wenn der Anzahlende eine Rückzahlung vom vermeintlich Leistenden erhalten hat. Dies ist aus Sicht des EuGH mit dem Unionsrecht vereinbar. Der EuGH begründet dies unter anderem mit seiner Erkenntnis aus der Rs. Reemtsma Cigarettenfabriken (Urt. v. 15.03.2007 – C‑35/05). Hat der (vermeintlich) Leistende zu Unrecht Umsatzsteuer in Rechnung gestellt, und ist es dem (vermeintlichen) Leistungsempfänger unmöglich oder übermäßig erschwert, diesen Steuerbetrag von seinem Vertragspartner zurückzuerhalten, so steht dem Leistungsempfänger ein Anspruch auf Erstattung unmittelbar gegen die Steuerbehörde zu, der sog. Reemtsma-Anspruch. Der EuGH überträgt diese Erwägungen auf den vorliegenden Fall. Da Kollroß und Wirtl ohnehin ein Reemtsma-Anspruch zustünde, ist es angemessen, die Pflicht zur Berichtigung des Vorsteuerabzugs von vorn herein auf Fälle zu begrenzen, in denen der Anzahlende den Steuerbetrag vom Vertragspartner zurückerhalten hat.
4. Fazit
Die Entscheidung des EuGH macht erneut deutlich, dass eine Versagung des Vorsteuerabzugs in Betrugsfällen die Ausnahme darstellen muss. Für den Vorsteuerabzug aus Rechnungen über (vermeintlich) erbrachte Leistungen hatte der EuGH dies schon in zahlreichen Urteilen entschieden. Nunmehr hat er auch klargestellt, dass bei einem Vorsteuerabzug aus Vorauszahlungsrechnungen keine strengeren Maßstäbe gelten dürfen. Den Nachweis des Wissen oder Hätte-wissen-müssen muss die Finanzbehörde erbringen.
Bemerkenswert ist auch, dass der EuGH seine Entscheidung in der Rs. Reemtsma Cigarettenfabriken heranzieht, um seine Rechtsposition zur zweiten Vorlagefrage zu begründen. Dadurch wird die grundsätzliche Haltung des EuGH wieder einmal recht deutlich: Unternehmer, die redlich gehandelt haben und damit schützenswert sind, sollen nicht mit Vorsteuern belastet bleiben. Selbst wenn eine Entlastung mittels Vorsteuerabzug ausscheiden sollte, kommt zumindest ein sog. Reemtsma-Anspruch in Betracht. Zwar hat der EuGH sich im vorliegenden Verfahren nicht dazu äußern müssen, ob der Reemtsma-Anspruch im Festsetzungs- oder im Billigkeitsverfahren durchzusetzen ist. Dennoch sollten betroffene Unternehmer auf Basis der vorliegenden EuGH-Entscheidung durchaus mutiger sein, im Bedarfsfall einen Reemtsma-Anspruch geltend zu machen.